Es gibt keine „Biographie“, die auf Ernst Ludwig Kirchner selbst zurückgeht, von ihm mit eigener Hand geschrieben wäre; kein Dokument, in dem der Maler die entscheidenden Stationen seines Lebens festgehalten hätte – außer einem kürzlich aufgefundenen vierseitigen Brief, den der Künstler am 27. Januar 1935 an den Verleger Ludwig Goldscheider, Leiter des Phaidon-Verlages in Wien, schrieb. Der Anlass: Goldscheider plante ein Buch mit „Fünfhundert Selbstporträts von der Antike bis zur Gegenwart.“ Darunter eines von Kirchner. In der Vorbereitung wandte er sich am 25. Januar 1935 an den Künstler im fernen Davos, bat um Bildrechte und „biographische Notizen“. Kirchner antwortete sofort; nur zwei Tage später: „ … gebe Ihnen gerne die Erlaubnis zur Abbildung des Bildes „Selbstporträt“ aus dem Folkwang [G 621,1920,120 x 85 cm] in Ihrem Buche „Das Selbstporträt“. Beiliegend die erbetenen biographischen Notizen Hochachtungsvoll E L Kirchner.“
Was dieses Dokument zu einer Besonderheit macht: Es versammelt Hinweise Kirchners auf die Stationen seiner „Vita“. Sie finden sich zu Teilen auch im „Davoser Tagebuch“ und in Briefen. So berichtet er von seinem Vater, der „Durch geeignete Lehrer für die künstlerische Bildung seines Sohnes gesorgt“ habe. Er schreibt auch, dass „Seine Arbeiten 1904 bei Gelegenheit einer Ausstellung [in der Lampenfabrik Seifert, Dresden-Löbtau] furchtbar angegriffen wurden.“ Und er berichtet von „Graef, der erste, der die Bedeutung der Kunst von E. L. Kirchner erkannte.“ (Davoser Tagebuch, 2. Auflage, S.72)
Aber das alles geschieht eher in unzusammenhängenden Notizen aufgefasst als Einzelereignisse. Es fehlt der übergeordnete Gesichtspunkt, das Kriterium, welches zwischen dem prägenden Aspekt und der eher zufälligen Begebenheit unterscheidet. Es fehlt der Abstand, der es ermöglicht, viele Jahre in ihren nachhaltigen Ereignissen zu überblicken, als Entwicklung zu begreifen und ihre Abfolge, ihre Bedeutung einzuordnen: Dresden, Berlin, Davos. Eben dies aber geschieht hier in diesem Brief.
Bemerkenswert, was Kirchner anführt und ebenso bemerkenswert, was er n i c h t erwähnt. Welche Menschen und Ereignisse zählt er zu seiner Vita – und welche nicht?
Die „biographischen Notizen“ beginnen mit dem Jahr seiner Geburt in Aschaffenburg: 1880. Dann springt er an das Ende seiner Gymnasialzeit und erwähnt die ersten Studiensemester in München und Dresden. Dass er schon sehr früh – in seiner Kindheit – von seinem Vater an den „Holzschnitt“ herangeführt wurde „in den Techniken Dürers und Rembrandts“ – dieses Ereignis wird ihn ein Leben lang begleiten. Was er hier mit Messer, Hohleisen und Geißfuß dem Holz entlockt – unvergleichlich, sei es das kraftvolle „Selbstbildnis mit Pfeife“ (Dube 23) von 1905 oder das „Programm der KG Brücke“ 1906 (Dube 696).
Ein Leben lang wird er mit dem, was ihm sein Vater zeigte, Meisterwerke schaffen: „Segelboote bei Fehmarn“, 1914 (Dube 243), „Kopf Ludwig Schames“, 1918 (Dube 330), „Wintermondnacht“ und „Wettertannen“ von 1919 (Dube 390,392) bis hin zu den schwebenden Linien, die die „Reiterin“ und das „Liebespaar“, 1929 (Dube 629, 630) umranken. Unter dem Pseudonym ‚Louis de Marsalle‘ erläutert er diese prägenden Anregungen seines Vaters: „Als Kirchner noch Pennäler war, gab ihm sein Vater eines Tages ein paar Holzstöcke […] damit er ihm davon ein paar Drucke machte. […] Um 1900 ungefähr beginnt die graphische Arbeit Kirchners. Es beginnt mit Holzschneiden.“ (Davoser Tagebuch, 2. Auflage S.226). Er zeichnete: „Das Zeichnen hat immer geholfen, geholfen das Leben zu erhalten. So wurde ich Maler. Das Malen gab mir Rückgrat […] konnte ich den Sprung ins Leben machen, es war und ist mein einziger Halt auch heute.“ (Presler Skb 62, 1919)
Und dann spricht er von jenem Grundelement, das ihn ein Leben lang in Atem halten wird, der Grundstruktur seines Schaffens. Im Skizzenbuch 156 bekennt er:: „Meine Malerei ist eine Malerei der Bewegung […] allmälig kam ich auf die Linie das Zeichen der Bewegung […] ich bereicherte sie um neue Formen, der Form, die man sieht, wenn man selbst in Bewegung ist.“ (Presler Skb 156-1, 1929/30). Um dieses Element der Gestaltung – „Bewegung“ – umsetzen zu können, muss er sich von dem langsamen, zähen Malen mit der herkömmlichen Ölfarbe lösen. Das geschieht im Sommer 1909. (Erich Heckel berichtet davon in einem Brief an Rolf Iseli 1960)
Dann kommt er auf die „BRÜCKE“ zu sprechen, schildert sie als Vereinigung „zu Ausstellungszwecken“., hebt hervor, dass sich junge Künstler – gemeint sind Fritz Bleyl, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff – in seinem Atelier treffen und gemeinsam arbeiten. Das, was sie ‚schaffen‘ wird in Dresden scharf angegriffen, so dass Kirchner beschließt, im Oktober 1910 – Kirchner nennt als Datum „1908“ – nach Berlin zu gehen, „um besser wirken zu können.“ Hier erwähnt er dann Emil Nolde, den ‚dänischen Maler‘, sowie Max Pechstein und Otto Mueller, die als Mitglieder zur „KG BRÜCKE“ hinzukamen. Nolde und Pechstein, so Kirchner, „übernahmen die neuen Techniken“. Auffallend: Die zeitweiligen, aktiven‘ „Brücke-Mitglieder“ Axel Gallén-Kallela, Cuno Amiet, Lees van Dongen, Bohumil Kubiŝta, Franz Nölken und Lambertus Zijl erwähnt er nicht. In der gemeinsamen Ausstellung der „neuen Generation der Schaffenden“ in der Galerie Maximilian Macht („Neuen Secession“) „auf Empfehlung Max Liebermanns“ im Mai 1910 (Kirchner 1908) sieht er einen ersten Höhepunkt der „Jugend, die sich Arm- und Bewegungsfreiheit“ verschafft.
Die Kölner Ausstellung des „Sonderbundes“ steht dann als der letzte gemeinsame Auftritt der „Brücke“ vor seinen Augen. Danach zerbricht die Solidarität der Repräsentanten einer neuen Generation der Schaffenden. Kein Wort zu den Ursachen, den gegenseitigen Vorwürfen in Kirchners „Chronik“ von 1913. Die Differenzen zwischen dem erfolgreichen Max Pechstein und ihm, dem von seiner Leitwolf-Funktion überzeugten Ernst Ludwig Kirchner, waren zu groß, schließlich unüberwindbar geworden. Kirchner spricht von seinen „Straßenbildern“, von den schöpferisches Neuland betretenden Gemälden, Zeichnungen und Druckgraphiken, die sich mit seinem „Paradies“ – Fehmarn verbinden. Wichtig sind ihm auch seine Batiken für die „Ausgestaltung des Tabakraumes von Feinhals auf der Werkkunstausstellung“, Köln 1914.
Dann erreicht ihn der 1. Weltkrieg, dem er sich entziehen kann und nach Sanatoriumsaufenthalten schließlich in Davos landet – um im Schutz und Schatten hoher Berge ein von anderen Inhalten geprägtes Dasein zu führen. Er versammelt einen Kreis von Schülern um sich, wird 1930 Mitglied der Akademie der Künste in Berlin und erlebt, wie eine große Ausstellung in Bern (5. März – 17. April 1933) ihm Zuspruch und Anerkennung bringt. Zahlreiche Museumsdirektoren aus Deutschland reisen an. Sammler kaufen Bilder. Das Kunstmuseum Bern selbst erwirbt das monumentale Gemälde „Alpsonntag. Szene am Brunnen“, [Gordon 734, 1923/24, 168 x 400 cm]. Kirchner triumphiert. Dass sich die Zeichen auftürmen, die ihn schon bald – nur wenige Jahre später in die Ausweglosigkeit und in den Tod treiben – sieht er nicht. Fast möchte man sagen: Gott sei Dank.
Davos. 27 Jan 35
Phaidon Verlag
Wien
Sehr geehrter Herr [Ludwig Goldscheider]
Vielen Dank für Ihren Brief vom
25 d. M, nun bin ich im Bilde
Und gebe Ihnen gerne die Erlaubnis
Zur Abbildung des Bilder Selbstporträt
Aus dem Folkwang [G 621,1920,120x85cm] in Ihrem Buche
„Das Selbstporträt“. Beiliegend die er-
betenen biographischen Notizen
Hochachtungsvoll
E L Kirchner.
Biographische Notiz über
E L Kirchner.
Geboren 1880 in Aschaffenburg. Nach der
Matura studiert er Malerei und Architektur
An den Kunsthochschulen München und
Dresden. Beginn 98 mit Holzschnitten.
Sein Vater zeigte ihm die Technik an mittel-
alterlichen Stöcken. Erzogen in den Techniken
Dürers und Rembrandts bekam er wichtige
Belehrung durch die Theorie des Neoimpressio-
nismus, speziell Seurat. Er selbst findet
neue Art des Naturstudiums durch das Zeichnen
der Bewegung und ein altes Malmittel, das
Wachs bereitet er auf neue Weise für seine Tech-
nik. Seine Arbeit findet Beachtung und
junge Künstler sammeln sich in
…Dresden in seinem Atelier, lernen die
neuen Techniken. Kirchner regt für
Ausstellungszwecke die Bildung einer
Künstlergruppe an, die später „Brücke
genannt wird. Diese neue Kunst
wird in der Folge so angegriffen, be-
sonders in Dresden, dass Kirchner 1909
nach Berlin zieht, um in der grossen
Stadt besser wirken zu können, vor-
her 1906 verstärkte sich die Gruppe durch
Eintritt von Nolde, damals dänischer
Maler und Pechstein. Beide übernah-
men die neuen Techniken. Kirchner
brachte 1910 Otto Müller zu Gruppe und
weihte ihn ein. Müllers Kunst bekam so
neuen Auftrieb.
1908 stellt Kirchner zuerst in der Secession
aus auf Empfehlung Liebermanns. 1912
tritt er aus Brücke aus. Gräf in Jena
wurde sein treuer Förderer. Kirchners Arbeit
wurde so weiter bekannt, dass er 1912
die Thorn – Prikker Kapelle auf der Sonder-
bundausstellung entwerfen konnte und
sie mit Heckel ausführte. Er malte
und radierte damals seine Berliner
Strassenbilder, 1912 -14 in Berlin und
Fehmarn. 1914 erhielt er den Auftrag,
die malerische Ausgestaltung des Tabak-
raumes von Feinhals auf der Werkkunst-
Ausstellung zu machen. 1915 Freiwilli-
ger im Kriege. 1916 erkrankt malt er
in Frankfurt und im Taunus. 1917 in
Davos. Neue Auffassung der Berge und
Bauern in der Arbeit bringt Kirchner
Neuen Schülerkreis aus Basel. Seit
1925 abermals neue Gestaltungsart,
die aus der Auswertung des bisher er-
reichten entsteht. 1930 wird Kirchner
zum Mitglied der Akademie der Kün-
ste in Berlin ernannt. 1933 grosse
Gesamtausstellung in Bern.