Das Urknall-Manifest der Kunst

Noch nicht lange ist bekannt: Das Ereignis allen Anfangs, der ‚Urknall‘ vor 13,8 Milliarden Jahren, kann bis heute mit feinen Instrumenten gemessen werden: Ein Nachhall, eine unmerkliche kosmische Mikrowellenhintergrundstrahlung (Cosmic Microwave Background, CMB), 1964 entdeckt von Arno Penzias und Robert Wilson. Das heißt: Bis heute sind wir in ununterbrochener Kontinuität verbunden mit jenem dramatischen Augenblick, in dem sich unsichtbare Energie in sichtbare Materie verwandelte.

In Aufnahme und im Wissen um dieses Ereignis entwickelte ich eine Parallele zu jener aufbrechenden Energie, die am Anfang jeden künstlerischen Schöpfungsprozesses steht. Es gibt eine auffällige Entsprechung zwischen den Vorgängen bei der Entstehung des Universums und jenen, die bei der Entstehung eines Kunstwerks auftreten. Ist nicht das Kunstwerk die Materialisierung einer im Künstler versammelten Energie, die sich im ersten Strich auf dem Papier verdichtet? War nicht der Urknall der Augenblick, in dem sich höchste Energie in Materie verwandelte – und ist nicht gerade d a s auch jenes Ereignis, das sich bei der Entstehung eines Kunstwerks vollzieht? Umwandlung von Energie in Materie! Was geschieht, wenn jemand den Bleistift in die Hand nimmt und einen ersten Punkt, einen ersten Graphitabrieb auf dem Papier hinterlegt?

Es wandelt sich schöpferische Energie in Materie und damit in jenen Zustand, mit dem alles begann; mit dem sich Neues, bis dahin nicht Vorhandenes zeigt. Ich sehe diese Verwandlung vor allem in jenen Zeichnungen verwirklicht, die das Skizzenbuch-Geschehen kennzeichnen: Entstanden „in der Ekstase des ersten Sehens“, wie Ernst Ludwig Kirchner es nannte. (näheres: Ernst Ludwig Kirchner, Die Skizzenbücher. „Ekstase des ersten Sehens“, Karlsruhe/Davos 1996, S. 51 ff.). Kirchner hat diesen Vorgang, diese Verwandlung zu fassen versucht: „Meine Form entsteht so, dass ich in der Ekstase des Erlebens in der Skizze neue Formgestalt finde, die im Bild kristallisiert und fest wird.“ (s.o.)

Und: Auch Edvard Munch ahnte ansatzweise etwas von der neuen Terminologie, in der man über ‚Kunst‘ sprechen kann: „Weltraum“. „Kristallisation“, „kosmische Kälte“, „Tiefe des Raumes“, „Sonnensysteme“. (Svenäus, Gösta, Im männlichen Gehirn I, Lund 1973, S.317; Trine Otte Bak Nielsen, Auch im härtesten Stein lodert die Lebensflamme, in: Munch. Lebenslandschaft, München 2023, S.40ff.)

Was Kirchner anspricht: Am Anfang steht eine hohe Energiekonzentration im Inneren des Künstlers. Sie ‚explodiert‘ und materialisiert sich. Kirchner: Sie ‚wird fest‘, sie ‚kristallisiert‘ – hinein in die Form eines Punktes, einer Linie, einer Fläche, einer Komposition, einer Struktur, jedenfalls einer sichtbaren Materialisation auf dem Papier. Skizzenbücher sind für viele Künstler ein/das Experimentierfeld kreativer ‚Entwürfe‘, das Erste, wonach sie greifen, wenn Schaffensdrang sie unabweisbar überwältigt.

Seit inzwischen mehr als dreißig Jahren: Das Skizzenbuch tritt immer mehr in das Zentrum der Forschung, wenn es darum geht, die Frage zu beantworten: Was ist schöpferische Energie und wo/wie/wann verdichtet sie sich hinein in die Fülle unbegrenzter Gestaltungsmöglichkeiten?

Worüber sprechen wir gerade? Was geschieht in dem faszinierenden Ereignis, mit dem ein eben noch leeres Skizzenbuchblatt – ein Malgrund, eine Leinwand, eine Kupferplatte, ein Lithostein, ein Holzstock – die Spur, den Hauch einer unendlich verdichteten Energie aufnimmt und materialisiert? Die Antwort: Das Immaterielle gewinnt Masse, Struktur. Es wird konkret. Was eben noch reine Energie war, wird nun erfahrbar in den Dimensionen von Zeit, Raum und Materie.

Heute wissen wir: Es gibt Parallelen zwischen Kosmologie und Kunst. Das Universum entstand im Urknall. Und: Der erste Strich auf dem Skizzenbuchblatt verwandelt und konkretisiert eine ebensolche, im Künstler verdichtete Energie. Der erste Strich auf dem Papier materialisiert die Energie des Künstlers, schafft neue Elemente, Bausteine und Organisationsformen. Einzigartig, ein ewiges Experiment. Was ist ein Kunstwerk? Es ist eine schöpferische Wiederholung und Konkretisierung der Strukturen des Anfangs; ein Ereignis, in dem aus Energie neue Verbindungen hervorgehen, vergleichbar jenen, die vor 3.8 Milliarden Jahren Leben – letztlich auch unser Leben – schufen.

Leben: Unser Leben: Eine Ausdifferenzierung der Materie – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und die Kunst nimmt teil an der Fortschreibung der Schöpfung, die in Quarks, Leptonen, Bosonen und Higgsteilchen begann. Sie gestaltet den Prozess der Energieumwandlung, dem sich alles – wirklich alles – verdankt: Materie, Raum und Zeit. Ein Hauch von Poesie umgibt, was der katholische Priester und Astrophysiker Georges Lemaitre schrieb: „Wir versuchen, uns des entschwundenen Glanzes des Ursprungs des Weltalls zu erinnern.“

Weiter kann man den Rahmen für das, was Künstlerinnen und Künstler tun, nicht spannen.


I. Von der Energie des Anfangs bis zu ihrer Verwandlung in der Kunst

© Prof. Dr. Dr. Gerd Presler


II. Energie und ihre Umwandlung in der Kunst

© Prof. Dr. Dr. Gerd Presler