Er war dabei

Im Februar 1930 stand der 35-jährige Franz Radziwill an der Columbuskaje in Bremerhaven. Zwei turbinengetriebene Passagierschnelldampfschiffe hatten festgemacht, lagen erstmals nebeneinander vor Anker: die »Europa«, gebaut von Blohm & Voss in Hamburg, und die »Bremen«, aus 7000 Tonnen Stahl in der Bremer Weser-Werft zusammengenietet, beide technisch an der Spitze damaliger Möglichkeiten. Kostenpunkt: 65 Millionen Reichsmark.

Die schwimmenden Paläste genügten verwöhntesten Ansprüchen. Alles war vorhanden bis hin zum bordeigenen Flugzeug, das mit Katapultstart abhob. Die Kabinen von nobler Eleganz und nüchterner Sachlichkeit. Noch während der Bauzeit bot ein amerikanisches Privatkonsortium einen fantastischen Preis, um diese beiden Wunderwerke der Schifffahrt zu übernehmen. Vergeblich. Am Bug der »Europa« prangte weiterhin das Wappen des Norddeutschen Lloyd. Im Jahr zuvor, 1929, hatten die Schwestern ihren ersten, großen Auftritt: Beide Schiffe liefen fast gleichzeitig vom Stapel. Doch ein Brand verzögerte dann die endgültige Fertigstellung der »Europa« um neun Monate, inzwischen trat die »Bremen« am 16. Juli ihre Jungfernreise an und erreichte New York in 4 Tagen, 17 Stunden, 42 Minuten. Rekord und das Blaue Band für die schnellste Atlantiküberquerung. Und schon im nächsten Jahr überbot die »Europa« ihr Schwesterschiff: 4 Tage, 16 Stunden, 48 Minuten.

Das förderte die Reiselust. Und es beeinflusste auch die im Ersten Weltkrieg beschädigte deutsche Selbstwahrnehmung. Sie schrie geradezu verzückt auf, baute sich hastig Brücken aus Produktionszahlen, Rekordzeiten und öffentlicher Wahrnehmung. Doch: Wo das wildeste Fest gefeiert, der heftigste Lärm geschlagen wurde, hockte schon wieder die Angst. Aus ihr erwuchs das Grauen, das einbrach in die Idylle. Die Wirklichkeit verzierte sich zunehmend als Schönheit über den Schrecken – und keiner merkte es.

Die Passagiere genossen derweil die Überfahrt. Sie war ein exklusives Ereignis, umweht vom Glanz des Besonderen, der Aura des Abenteuers und der bedröhnenden Tragik der »Titanic«. Es tanzte sich hüftab auf dem Vulkan. Vor allem, wenn Komfort jede Stunde spürbar bestimmt. So war die Gastronomie legendär: Die Schiffspäckchenkartei mit bis heute gesuchte Sammlerstücke. Und wenn man zur Passage ein paar Scheine hinzufügte, durfte man am Tisch von Kapitän Leopold Ziegenbein Platz nehmen – ein Ritterschlag, umflüstert von den Reichen und Schönen der damaligen Zeit.

Franz Radziwill war dabei im Februar 1930, als die Kolosse an der Columbuskaje lagen. Der Maler zog sein Skizzenbuch aus der Jackentasche, griff zum Bleistift, komponierte, verteilte die Masse der mächtigen Schiffsleiber im schmalen Geviert des Blattes. Schon hier die rasante Untersicht aus dem Können eines Architekten, jenem Beruf, den er erlernt hatte – und nicht ausübte: »Ich muss Maler werden«, erklärte er seinen entsetzten Eltern, als er in ein turbulentes und zugleich unberührbares Leben aufbrach.

Ein Skizzenbuchblatt. Wenige Striche. Nicht mehr. Die eigentlichen Eindrücke lagerten sich ihm im Malerinnen. Vor der Staffelei und der Leinwand wird sich im Atelier an der Dangaster Sielstraße ein ganz anderes Geschehen entfalten. Und doch waren Entscheidungen gefallen: Das Skizzenbuchblatt bedeutete für ihn nicht nur Vorarbeit. Es verdichtete eine erste Wirklichkeit, hinter der sich eine weitere, eine zweite Wirklichkeit verbarg. Sie galt es herauszufordern, zu formulieren – und das geschah im Gemälde, wenn der Maler die Schichten der Ölfarbe auftrug, farbig abgesetzt im Duktus den alten Niederländern, an Rembrandt und Jan van Goyen geschult Lasurtechnik mit feinen Untermalungen, schließlich mit Bernstein gefirnist. Erwecke Wirklichkeit, die eines festschreibt: die »Brüchigkeit des Daseins« (Radziwill).

Details erschrecken: Ein Matrose putzt das äußere Gefieder – die weit über den Abgrund hinausragende Kapitänsbrücke; ein filigranes Stahlgerüst trägt in schwindelnder Höhe jenes Kranhäuschen, über das Lloyd-Bedienstete Proviant, Treibstoff, Fracht und Luxusräume in das Innere des Schiffsbaugesperrs; drei Segelschiffe verstummen, eingekeilt zwischen Stahlwänden, im Hintergrund eine Kaimauser, die einer Barkasse den Weg in die Ausweglosigkeit versperrt.

Die Sprache des Magiers: Das Grauen durchzittert die Idylle. So malt kein »Marine-maler«. Radziwill wusste, warum er gerade diese beiden Dampfer skizzierte. Was sich hier abspielt, beschrieb Werner Haftmann, Direktor der Nationalgalerie in Berlin von 1967 bis 1974: »Anlegestellen von Dampfern, deren Nieten Stück für Stück mit besessener Intensität registriert waren, Bilder, die in ihrem Sich-Festfressen am Detail der Szenerie eine magisch erstarrte Unheimlichkeit gaben. Unter Radziwills Bildern sah man auch von apokalyptischen Schauern durchwirkte … All diese Bilder waren mit bemerkenswertem Können wahrhaft ›altmeisterlich‹ gemalt, was den instabilen, halluzinatorischen Untergrund noch verstärkte.«

Mit flinken Strichen skizzierte der Künstler 1930 die »Europa« und die »Bremen« an der Columbuskaje in Bremerhaven.

Manche Betrachter zogen seitdem eiligere Bilanz, blieben an der Außenhaut hängen, für sie war er der »Nieten-Radziwill«. Manche standen nur ratlos: »Wer ist dieser Franz Radziwill: ein ungeheurer Maler oder ein malendes Ungeheuer?« Geschaffen 1930, wurde das Gemälde »Hafen II (Hafen mit zwei großen Dampfern)« schon am 7. September 1932 vom Direktor der Nationalgalerie in Berlin, Ludwig Justi, angekauft. »Es gibt einem Saal im Obergeschoss des Kronprinzenpalais Mittelpunkt und Gesicht«, schrieb er dem Maler. Damit war Franz Radziwill im renommiertesten Museum Deutschlands angekommen. Als er nach 1935 trotz NSDAP-Mitgliedschaft als »entarteter Künstler« galt, 275 seiner Arbeiten aus Museumsbesitz beschlagnahmt und zu großen Teilen vernichtet wurden, verlor dieses Werk seinen Stammplatz nicht.

Kürzlich sind die beiden Luxus-Schnellturbinendampfschiffe – die »Europa« und die »Bremen« – noch einmal in See gestochen, aufgebrochen zu großer Fahrt. Leinen los! Nach der ersten Station im Museo Correr in Venedig sind sie mit der Ausstellung zur Neuen Sachlichkeit auf der Nordatlantikroute über den Großen Teich in die Vereinigten Staaten gefahren. Dort sind sie noch bis zum 17. Januar im Los Angeles County Museum of Art zu sehen.

Erschienen in Weltkunst, November 2015 als »Kunststück Nº 58«